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Der Genius der Unruhe

Der Genius der Unruhe
Der Genius der Unruhe
Die Unruhe kennt keine Resultate, sondern nur lose Enden, die neue Anfänge, Übergänge und Anschlüsse sind. Foto: Maksimilian/Shutterstock

Die Unruhe ist ein Daseinsgefühl, eine Welt voller Fantasien, voller Verheißungen und Pläne. Ihre Wucht und Überzeugungsstärke bezieht die Unruhe aus einer geläufigen Prosa des Begehrens, die sich in Bildern der Erneuerung und der Belebung ausspricht.

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Ralf Konersmann

Professor für Philosophie an der Universität Kiel und Direktor des dortigen Philosophischen Seminars, Autor des Buches „Die Unruhe der Welt“,  
© S. Fischer Verlage

Was den Ökonomen die Konkurrenz, der Aufschwung und das Wachstum, das ist den Künstlern die Steigerung des Ausdrucks und eine urwüchsig geltende Kreativität, die sich in Einzelprojekten auslebt und beweist, aber niemals verausgabt und erschöpft. All dies versteht sich von selbst, geschieht beiläufig, jederzeit und überall.

Bildungsziele kommen und gehen, Geschlechterrollen wechseln, Familienbilder wanken, und Religionen, einst auf Fels gebaut, definieren sich neu, als wäre das gar nichts. Der verbreitete Glaube an eine ursprüngliche Gefügigkeit der Dinge kennt kein größeres Ärgernis als das, was sich gleich bleibt. Verwaltungen und Behörden, eben noch der Inbegriff der Schwerfälligkeit und der lähmenden Vorschriften, sind in eine Endlosschleife aus Reform und Kontrolle eingetreten, und im Supermarkt um die Ecke veranschaulichen gewitzte Warenaufsteller von Woche zu Woche die verkaufsstrategische Variante der einst von bolschewistischen Aufrührern verbreiteten Parole der wahren, der permanenten Revolution.

Die Unruhe ist ein hoffnungsfrohes Taumeln, ein massenhaftes Sehnen und Drängen, das die Unterscheidung zwischen Treiben und Getriebensein nicht kennt. Ein weltlicher Adventismus regiert und macht sich selbst zum Zweck, die Welt erstrahlt in freudiger Erwartung. Handlungsziele treten zurück und weichen dem Bemühen, etwas – irgendetwas – zu bewegen und in ständiger Bewegung zu halten.

Die Konsequenzen dieser Grundausrichtung reichen weit. Aus der Warte der einmal angestoßenen, der sich selbst befeuernden Unruhe erscheinen Ziele als Ärgernisse, als Endpunkte und Hemmschwellen, an denen der kollektive Schwung erlahmt. In der Denkwelt der Unruhe haben deshalb Ziele allenfalls als Orientierungspunkte Bedeutung – nicht als Ankünfte, sondern als Übergänge.

Die Unruhe kennt keine Resultate, sondern nur lose Enden, die neue Anfänge, Übergänge und Anschlüsse sind. Sie ist der Aufbruch in Permanenz, die systemische Ziellosigkeit. Natürlich will auch sie etwas bewirken, auch sie lockt mit der Aussicht auf Erfüllung. Viel näher aber liegt der Unruhe die Sorge, die Bewegung könnte stocken und überhaupt zum Stillstand kommen.

RALF KONERSMANN – DIE UNRUHE DER WELT

Über die Weigerung, die Dinge auf sich beruhen zu lassen.

Einst galt die dauerhafte Ruhe als Bedingung von Glück. Heute jedoch wird Unruhe belohnt, das Immer-Unterwegs-Sein, die permanente Veränderung. Der bekannte Kulturphilosoph Ralf Konersmann rekonstruiert, wie die westliche Kultur ihr Meinungssystem revolutionierte und von der Präferenz der Ruhe zur Präferenz der Unruhe überging.

Mit genealogischem Blick nimmt er die Unruhe nicht einfach als gegeben, sondern arbeitet heraus, wie sie überhaupt ihren Status hat erlangen können.

S. Fischer Wissenschaft,
ISBN: 978-3-10-038300-6
UVP € 24,99 [D]
www.fischerverlage.de

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